Der Beitrag erschien in der Kategorie "Herzensbuch".
In Arno Schmidts Version des Dichter-Hades spaziert das Ich, der unverkleidete
Autor, in der Dämmerung des Novembers 1955 durch Darmstadt. In
einer Apotheke trifft er einen Mann ("entweder Schwätzer oder
Kollege, also halb Deubel halb Satan"), der ihn anspricht und ihn
nach bestandener Gesinnungsprüfung ("Sie sind Atheist? : Ich
auch.") einlädt, 36 Stunden in genau dem Hades zu verbringen,
den der Erzähler als das Autorenjenseits ohnehin vermutete. So
eine Stippvisite ließe sich einrichten, denn: "Wir dürfen
das alle 10 Jahre einmal machen, daß wir Einen mit runternehmen".
Dieser nette Agent führt ihn zu einer Litfasssäule, in die
ein Zeitungskiosk eingebaut ist. Hier im Büdchen zwischen Welt
und Totenreich arbeitet
Tina Halein, eine untote Lyrikerin (1801-1877). Der Einstieg geschieht
James-Bond-artig durch die hohle Säule, mit einem engen Aufzug.
Schon während der Fahrt küsst Tina den Erzähler und schiebt
ihm konspirativ ihre jenseitige Adresse zu. Unten im Hades, einem städtischen
Höhlensystem, hängen die toten Autoren herum, zwar in ihren
ehemals schönsten, frei zu wählenden Verkörperungen -
aber sie leiden.
Das Prinzip ist so einfach wie einleuchtend: Sie, die zu Lebzeiten ihre
Namen wie markierende Hunde überall hinterließen und zwanghaft
ihr Werk sichern wollten, sind genau deshalb in der Nachwelt verflucht.
Ihr personales Jenseits ist verwirklicht, aber es bedeutet ihnen nichts
mehr. Die Jahrhunderte des Unvergessenseins werden zur Folter. Die Autoren
dürfen erst dann richtig sterben, wenn dort oben nicht der geringste
Hinweis auf sie mehr existiert. Die Sehnsucht nach der fernen endgültigen
Auslöschung bewegt die Untoten.
Diese Göttliche Komödie von 1956 ist ein Heiden-Spaß
im Betthupferlformat, eine hochkonzentrierte und dabei vergleichsweise
federleichte Erzählung, die für Schmidt-Neulinge ein idealer
Einsteig ins Werk wäre, ähnlich wie der Erzähler von
der verstorbenen Tina in die Unterwelt eingeführt wird. |
 ▲ Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Band 2
 ▲ Namensgeberin Tina Halein (1801-1877)
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