Rezensionen
für Am Erker

 
   

Silvia Bovenschen und Jörg Bong (Hrsg.): Rituale des Alltags. Frankfurt am Main: S. Fischer 2002.

Jochen Jung (Hrsg.): Kleine Fibel des Alltags. Ein österreichisches Lesebuch. Zeichnungen von Rotraut Susanne Berner. Salzburg / Wien: Jung und Jung 2002.

In: Am Erker 45, Münster, Juni 2003.

Zu den Sachen

Eigentlich ist es eine dankbare Aufgabe, über alltägliche Rituale zu schreiben, über vertraute Gegenstände und lieb gewonnene Gewohnheiten. Was sich wiederholt, bietet ein hervorragendes Substrat für Geschichten, ist oft erinnerungsstützender als das Einzigartige: Man darf die Madeleine zeitlupengemütlich in den Lindenblütentee tunken. Dass gleich zwei Anthologien die Idee hatten, sich am Wort Alltag zu orientieren, ist aber vermutlich ein Marketing-Einfall, denn die erste hier besprochene stürzt sich ganz auf den Ritual-Begriff.
Das viel zu lange Titelerklärungsvorwort von Bovenschen und Bong zu ihrem Band Rituale des Alltags verwendet ausgesuchte Fremdwörterpaare ("hermetische Abundanz") und hemmungslos germanistische Mantras ("Momente ihrer opaken, selber pluralen Signatur"), damit entspricht es recht gut den Ritual-Welten, die dargestellt werden sollen. Alles was sich wiederholt, ist per se eben auch satirewürdig. Was folgt, kann nur lesbarer werden. Und es folgt eine starke, höchstens zu umfangreiche Anthologie.
Rainer Merkel portraitiert in einem seine trockenen Beschreibungen geschickt wiederholenden Ritualstil einen Messebau-Vertreter im Hotelzimmer. Dieser versucht, sich spätabends leidenschaftslos mit Hilfe des Pay-TV-Pornokanals einen runterzuholen, um dann entspannt und ebenso leidenschaftslos mit seiner Freundin telefonieren zu können, damit diese ihm wie immer von ihren Ex-Männern erzählt. Sie kommt ihm mit ihrem eigenen Anruf zuvor, noch ehe dort auf der Mattscheibe "die Hausfrauendarstellerin" zu Ende gefickt hat. Doch das macht ihm nichts. Nichts macht ihm irgendwas. Der Erzähler findet es anrührend, dass das Paar im Kanal noch die ganze Nacht weiterschuften wird.
Alexander Garcia Düttmann weiß vor lauter altbackenen Formulierungen nicht, ob er einen Essay oder eine Story oder worüber er eigentlich schreiben will, und so atmet man gleich danach durch bei Dagmar Leupolds federnden Jogging-Beobachtungen. Thomas Hettche liefert eine manieristisch-schöne Berliner Abendstimmung, trunken. Gregor Sander hält nichts vom Thema und malt in dichten, exakten Bildern das doppelte Verunglücken eines Posaunisten hin, nur das Ende willigt etwas zu schnell ein. Eng bleibt David Wagner an der Buchtitelvorgabe und baut mit drei Stationen unterschiedlicher Lebensjahre einen verlustselig seufzenden Ego-Alterungsbericht auf, der genau beobachtete Zustände und Absichten miteinander vergleicht: Irgendwann hat man keine kindliche Angst mehr vor den Zahnarztbesuchen, sondern eine erwachsene vor den durch sie ausgelösten Rechnungen. Dasselbe schmerzt anders.
Ein Block des Buches behandelt, wie soll es heutzutage anders sein, das Autorenleben selbst. Professor Reichert überrascht hier mit Sätzen wie "Rituale sind konservativ" oder "Rituale sind Standardisierungen zur Angstabwehr". Professor Hamacher kommt ohne Wittgenstein und Hegel gar nicht vom Fleck und findet die Dissoziation des Ichs immer noch bemerkenswert.
Patrick Roth, ein Höhepunkt dieser Anthologie, verspricht, er werde drei schwer vergessliche Bilder rund um Kalifornien präsentieren - und hält sein Wort. Roth geht charmant und spielerisch ein Risiko ein: Er ist sich seiner Fähigkeit so sicher, dass er das von ihm erhoffte Resultat seines Textes in demselben schon ankündigen kann, ohne genau an diesem Hochmut zu scheitern.
Die vom Verleger Jochen Jung herausgegebene österreichische Kleine Fibel des Alltags konzentriert sich auf Miniaturen gewöhnlicher Dinge, Tiere und Umgebungen. Aber warum schlagen so wenige der 61 vertretenen Autoren Funken daraus, maximal eine Seite über ihren Gegenstand zu schreiben? Es gibt wenig Überraschendes, die meisten Betrachtungen sind entweder banal oder konfus, manche Autoren scheinen einfach Synonym-Wörterbücher oder Lexika durchgeflöht zu haben. Nur einige (und eher die prominenteren) Autoren konnten ihr Material verdichten und aus den Dingen einen ästhetischen Mehrwert ziehen, etwa Ludwig Laher aus den G(eh)leisen, Alois Brandstetter aus dem Knopf, Ernst Nowak aus der Schere. Den Start markiert Friederike Mayröcker mit einem menschelnden Amsel-Bild. Geräte zu beleben gelingt Evelyn Schlag (das Handy) sowie Gerhard Roth und Gert Jonke mit Kamera und Projektor. Franzobel lässt sich von seiner luderhaften elektrischen Zahnbürste liebkosen. Daniel Kehlmann belächelt genau jene Schreibmaschinen-Nostalgiker, zu denen zwanzig Seiten weiter prompt Werner Schneyder gehört. Den Fibelcharakter der Anthologie sollen die Kinderbuchillustrationen unterstreichen, die aber leider oft ärgerlich ungelenk ausfallen.

Am Erker Nr. 45
▲ Am Erker Nr. 45 (2003)

Rituale des Alltags
▲ Anthologie Rituale des Alltags (2003)

Kleine Fibel des Alltags
▲ Anthologie Kleine Fibel des Alltags (2003)