Rezensionen
für Am Erker

 
   

Melanie Arns: Heul doch! Roman. Salzburg, Jung und Jung 2004.

In: Am Erker 49, Münster, Juni 2005.

Blinzelndes Kunstauge

Der Umschlag von Melanie Arns' Debüt zeigt ein dick eingepacktes Mädchen, das einen Schlafsack oder eine Klamottenrolle geschultert hat und sich halb gehetzt, halb unsicher noch einmal umschaut: Das Cover von Heul doch! sieht aus wie das eines gut gemeinten Jugendromans, der heißen könnte Jessica büxt aus.
Worum geht es? Ein bockiges Girl lebt in einer Familie saufender, Dialekt schnatternder Karnevalisten. Sie hat angeblich AIDS, aber das war nur gelogen, um sich wichtig zu machen. Ungelogen hatte sie einen schweren Autounfall, leidet seitdem unter Gesichtsentstellungen und trägt ein Glasauge, das sie ihr "Kunstauge" nennt. Vater guckt samstags Sport. Dann kommt Sippschaft zu Besuch. In Teil zwei folgt die Schule. Alles echt ätzend. Das Mädchen lässt nichts aus, was man heutzutage Teenagern zuschreibt: Selbstverletzung, Bulimie, VergewaltigtseindurchdenVater.
Es finden sich viele popliterarische Vorurteile bestätigt: Arns, Jahrgang 1980, schreibt über sehr junge Frauen, Beziehungen und Familienprobleme, eine Story fehlt, und die Autorin bemüht sich um einen flotten bis schnodderigen Stil. Sie verwendet gerne Ausrufezeichen! Arns meint, es reiche, den Alltag eines verletzten Mädchens in einer gar schröcklichen Spießerfamilie abzubilden.
Was ist das Besondere? Die Erzählweise der beliebig montierbaren kurzen Takte? Wohl kaum. Es sind vereinzelte scharfe und schwarzhumorige Bilder, die zum Weiterlesen reizen. "Mutter sticht mir mit lackiertem Fingernagel das rechte Auge aus dem Kopf" - "Oma legt ihre Brüste auf den Tisch und frisst." - "Entschuldigung, dürfte ich mal, lässt du mich bitte durch, ich möchte mich umbringen." - "Ich sitze glasäugig rum und warte auf mein wohlverdientes Mitleid. Vergeblich." - "Es wird jetzt geheult." - "Dann wird das behaarte Mäuschen unter die Erde gebuddelt und auf dem Grabstein steht: 'Was fühlst du?'" - "Ich bin Nichtraucher, Nichttrinker, Nichtesser."
Nach zwei starken Seiten über den Unfall bzw. das Aufwachen im Krankenhaus verwendet Arns auch andere erzählerische Mittel, wie nach einem reinigenden Regenguss. Das Girl behauptet, der Junge, in den sie verliebt ist, sei gestorben, und outet das wenige Seiten später als Fiktion - dieses billige Täuschungsmanöver, dem Leser etwas willkürlich Widerrufbares hinzuwerfen, dieses erzählerische Unding, das normalerweise höchst ärgerlich wirkt, beherrscht Arns im Gegensatz zur ersten Hälfte plötzlich so gut, dass es passt. Allerdings kommt weiterhin keine Handlung in Gang, und leider spekuliert sie darauf, dass das litaneihafte Wiederholen der Vergewaltigung durch den Vater dem Girl genügend Betroffenheitskredit beim Leser schenken wird. Dieses Motiv überzeugt wenig, und sie wagt es nicht, auch mit diesem effekthascherischen und zeitgeistigen Zentralmotiv als einer Fiktion zu spielen - Autoren dürfen das noch nicht. Vielleicht hätte sie es besser ganz weggelassen.

Am Erker Nr. 49
▲ Am Erker Nr. 49 (2005)

Melanie Arns: Heul doch!
▲ Melanie Arns: Heul doch! (2004)