Anna Katharina Hahn: Kavaliersdelikt. Erzählungen. Frankfurt am Main, Suhrkamp Taschenbuch 2004.
In: Am Erker 49, Münster, Juni 2005.
Weibertipps von Doktor Benn
Monty Pythons Hell's Grannies lebten es vor: Im Jahr 2050 müssen sich arme Greise, die das Jubiläumsfest ihrer WG finanzieren wollen, zu Streetgangs zusammenschließen. Es gilt, hilflose Mütter mit Kinderwagen auf dem Hamburger Jungfernstieg zu überfallen und dann zu fliehen, so schnell es die billigen Hüftprothesen zulassen. Die Alten der Zukunft kämpfen gegen das junge Gemüse, und immer droht ihnen das Boot Camp für störrische Tatterer. Außerdem werden die Senioren ästhetisch fortwährend beleidigt, denn statt Sneakers und Hilfiger tragen die Enkel biederste Fünfziger-Jahre-Klamotten und lieben Brahms.
Anna Katharina Hahn, Jahrgang 1970, hatte viel Spaß bei diesem Genrebild über das große Zähneklappern vor der Altersarmut. Fast immer verbindet sie ihre Lust an der akribisch beschriebenen Anarchie mit aktuellem Zeithintergrund. Schon in ihrem hervorragenden ersten Erzählungsband Sommerloch (Achilla Presse 2000) beherrschte Hahn die Technik detailversessener Tableaus, in denen sie Spannung oder Satire, schnodderigen Sound oder melancholisches Betrachten kombinierte. Verschiedenste Textsorten gibt es auch in diesem zweiten Band, der sich vom Wesen her an den ersten anschließt. Oft nimmt die Autorin Rollen ein (teilweise bedenklich schwankend zwischen Abziehbild und Karikatur), deren Innenwelten sie ausstaffiert mit bösem Blick und detektivischer Ruhe. So betrachtet sie eine Bohemekneipe in Berlin-Friedrichshain ("schwarzbebrillte Modernisierungsverlierer") durch die Augen eines schnöseligen Medizinstudenten. Sein gutbürgerlicher Spott verändert sich, als er ein Mädchen anquatscht, die die Lyrik liebt und behangen ist mit "Ethnokitsch": eine verhuschte Szene-Erscheinung, "die Augen von schwarzem Zeug umschmiert", gezeichnet nach dem Portrait von Else Lasker-Schüler als Prinz Jussuf von Theben. Sie verleiht sich selbst einen jüdischen Hintergrund, und das findet übrigens auch er schick. Beide gehen durch dunkle Kiezstraßen zu ihr, in eine "Höhle mit Wandbehängen", sie entzündet einen siebenarmigen Leuchter und spricht einen jüdischen Segen. Zum Sex kommt es nicht mehr, weil sie einschläft, aber der Mediziner durchstöbert ihr Zimmer und findet heraus, dass der jüdische Familienteil nur eine stylishe Erfindung des Mädchens ist und sie sich bewusst an "Else" orientiert. Prompt kommen ihm Benn-Zitate unter, und er ist beeindruckt, weil der gute Gottfried offenbar markige Sprüche drauf hatte, geeignet, um einen One-Night-Stand nicht anbrennen zu lassen. Man sieht sich wieder, um den Sex nachzuholen. Und die Anverwandlung geht so weit, dass der Mediziner mittlerweile von Benn-Zitaten und "ein bißchen Morgue-Geschwätz" umgeben ist wie von einer stimulierenden morbiden Wolke: "Geheimratsecke vögelt Fettsteiß?"
Hahns harter, genüsslich verräterischer Zugriff auf die Welten zwischen Berlin, Hamburg und dem Musterschwabenland fängt die Sklavenschiffatmosphäre eines geisteswissenschaftlichen Instituts ebenso gut ein wie die ruhelosen Provinzler, die ihr einst im dritten Reich verlassenes Geisterdorf pflegen wie eine Grabstätte. Die traditionell eher männliche Erzählweise mit weiblicher Ausrichtung ist verblüffend und eigen - eine fruchtbare Kombination. |

▲ Am Erker Nr. 49 (2005)

▲ Anna Katharina Hahn: Kavaliersdelikt (2004)

▲ Anna Katharina Hahn: Sommerloch (2000)
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