Bernhard Keller: Spiel im Dunkeln. Roman. Frankfurt am Main, Collection S. Fischer 2005.
In: Am Erker 50, Münster, Dezember 2005.
Leiten, gleiten, geleiten
Lennart, etwa 40, ein unauffälliger Normalo mit Gewaltphantasien, begehrt das 30-jährige Gogogirl Nora. Seit frühester Kindheit träumte er davon, ein Mädchen zu entführen, und jetzt greift er sich die Schönste. Ihr Charakter und sonstige innerliche auslösende Faktoren sind ihm egal - allerdings basiert der Roman Spiel im Dunkeln gerade hier auf einer untergründigen Beziehung zwischen Täter und Opfer. Nora, bis zur Absurdität narzisstisch, hat gerade ihren letzten Auftritt im Rahmenprogramm eines Sechstagerennens. Gleich danach will sie das Tanzen an den Haken hängen. Lennart kennt das Stadion gut und hat einen bunkerartigen Kellerraum nahe der Künstlergarderoben hergerichtet mit allem, was man für die Haltung einer Frau braucht.
Nora findet sich selbst so makellos wie der Entführer. Immer wieder bestaunt sie ungebrochen ihren eigenen Körper. Keine Frau tut das. Und auch dass Noras beide Mittänzerinnen sie als die Perfekteste der drei Grazien lobpreisen, klingt sehr unrealistisch. Die berühmteste Variante des Mann-Frau-Entführungskammerspiels, The Collector von John Fowles (1963), grüßt mit wenigen Anklängen, doch Nora ist eine reine Männerphantasie, und das schließt Spiel im Dunkeln aus der Reihe der klassischen Psychostudien aus. Keller erzählt zum einen thrillertypisch in allwissender Perspektive, zum anderen, für dieses Genre jedenfalls, bei weitem nicht dicht und dynamisch genug. Vielleicht gerade wegen des klaren und sauberen Stils geraten ihm die längeren Dialoge leider schnell papieren. Aber über einen raffinierten Umweg wird der Stoff sehr innovativ beleuchtet: Zwischen die Szenen der örtlichen Annäherung von Täter und Opfer sind spätere Szenen geschnitten, die Lennart mit Noras Mutter zeigen.
Die Entführung ist hier vor Monaten geschehen. Nora, die sich im Bunker mit ihrer Sklavia-Rolle sofort und gerne arrangiert hat, verlangt bestimmte Hustenbonbons, und so besucht Lennart ihre Mutter Rosa, eine Apothekerin. Nora möchte über Lennart erfahren, wie die Mutter mit ihrem Verschwinden klarkommt. Rosa, so wird gesagt, ähnelt Nora. Während Rosa ihre Tochter für tot hält und sich viel zu leicht abgefunden hat, kommen der vermeintliche Kunde und sie sich im dunklen Hinterzimmer der Apotheke näher. Bis zum lustvollen Petting. Lennart beichtet seine Phantasien, auch die sexuellen. Sie nennt ihn "großartiger Dreckskerl", und sie erzählt von Nora. Es ist ein genialer Kunstgriff, wie der Entführer sich seinem Opfer allein über dessen Mutter annähert und wie daraus etwas Intimeres entsteht als durch die Kerkersituation. Über Bande gespielt, geschieht im Hinterzimmer die Psychologisierung aller Figuren.
Zwischen den Schnitten nähert sich die Tat. Wie sollte der schwächliche Nerd Lennart eine topfitte Halbnackttänzerin ins Verlies geleiten? (Nebenbei ist es unglaubwürdig, dass Lennart den Bunker unbemerkt mit Küche, Laufband und Solarium ausstatten konnte und beliebig Zugang findet.) Der Autor löst das Hauptproblem des Plots auf so zweifelhafte wie originelle Weise, nämlich gar nicht. Er verzögert das zentrale Geschehen. Er braucht die gesamte Anlaufzeit des Buches, weil er aus der Psyche der Personen heraus den kleinen Akt einigermaßen zwingend gestalten will.
Als Nora aus der Garderobe tritt, steht Lennart im Gang und muss sie nur fünfzehn Meter weiterführen. Die stilisierte Szene ist traum- oder drogenrauschartig angelegt. Nora gleitet willenlos mit, als kannten sich beide immer schon, als seien sie Brüderchen und Schwesterchen. Ohne Gewalt bugsiert er, der plötzlich selbstsichere Dreckskerl, die müde und dankbare Tänzerin hinter die sichere Tür.
Nora hat innerlich immer auf die Isolation und einen wie Lennart gewartet, so suggeriert es der Roman. Sie absolviert ihr Training, bräunt sich, wünscht sich spezielle Kosmetika. Sie erhält ihre Schönheit für Lennart, der sie täglich besucht, für sie kocht, mit ihr schläft. Von null auf hundert ist das frohe Einverständnis zwischen Entführer und Opfer gegeben, dessen untergründige Voraussetzung das Buch leitet. Das bedeutet kein Stockholm-Syndrom, vielmehr fusionieren zwei gegensätzliche Leben in einer (leider unrealistischen) Spezialsituation. Nora erduldet seine stumme Gier wie einen karitativen Akt: "Dann fickt er sie. Schlimmer als sonst, kommt ihr vor. Derb und verzweifelt. Und vollkommen kalt." Lennarts Petting mit Rosa in der Apotheke dagegen ist erotisch gestaltet, mit der Mutter wurde Lennart zärtlich. Er gesteht ihr am Ende, dass ihre Tochter noch lebt und dass er es war, der sie entführte. Rosa nimmt es genauso hin wie die Variante, Nora sei tot. Man muss am Ende denken, dass alles bestehen bleibt, dass Rosa nicht die Polizei verständigen wird. Sie weiß Nora bei Lennart sicher.
Keller verdeckt die Schwäche des Plots, die Tat, durch die geniale Idee, zusätzlich zur ersten klaustrophobischen Situation eine parallele zweite aufzustellen. Notwendige Kaschierung und ästhetische Absicht sind in dieser Spiegelung dann kaum mehr unterscheidbar. |

▲ Am Erker Nr. 50 (2005)

▲ Bernhard Keller: Spiel im Dunkeln (2005)
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