Wolfdietrich Schnurre: Dreimal zur Welt gekommen. Ausgewählte Erzählungen. Hrsg. von Marina Schnurre und Fritz Bremer, mit einem Vorwort von Günter Kunert. Neumünster, Paranus 2008.
In: Am Erker 56, Münster, Dezember 2008.
Schnelle Schnitte durch kaputte Landschaften
Kommt man aus den Schulbüchern noch heraus, wenn man erst einmal in ihnen plastiniert dasteht? Verordnete Literatur, pädagogisch wertvoll & gut gemeint, vergisst man gerne, denn sie wurde nicht erobert. Dabei war Wolfdietrich Schnurre (1920-89) einer der wichtigsten Geburtshelfer des lakonischen realistischen Stils, den junge AutorInnen gewissermaßen als Erstes in Schulen lernen, in Schreibschulen. Es ist derjenige Stil, mit dem man heute am wenigsten falsch machen kann, der den geringsten Widerstand hervorruft und der fast immer mit amerikanischen Vorbildern verknüpft wird. Dieser Band versammelt Geschichten aus zwei Jahrzehnten, die an aktuelle junge Literatur denken lassen - und dabei müsste es doch andersherum laufen.
Der Einfluss des frühen Schnurre auf das Jetzt scheint einzuleuchten. Nur ist es so, dass er, der über eine lange Zeit im Betrieb stark präsent war, zu eindeutig mit den Themen Krieg, Trümmer und Kindheit verbunden wird, außerdem machte ihn seine meist geschlossene Form (meist, denn einige tableauartige Traum-Miniaturen in diesem Band weichen davon ab, und das spätere Werk Der Schattenfotograf ohnehin) bei den Ganzmodernen eher suspekt, also meinte man wohl, er sei im Deutschunterricht korrekt aufgehoben. Gar nicht mal falsch. Wer eine Jahrhundertgeschichte wie Das Begräbnis von 1946 schreibt, bekommt den Schulbuchplatz zu Recht zugewiesen und hat ausgesorgt. Aber gerade bei der Konzentration auf die unmittelbare Nachkriegszeit verblüfft heute die handwerkliche Komponente dieses Schreibens: dass unter einer solchen Hast und unter so schwierigen Verhältnissen einige Texte eine klassische Perfektion erreichten. Schnurre als den großen Lakonisten zu bezeichnen, ist nicht besonders genau und klingt nach Programm und Konzeptkunst. Dabei war er ein ganz unaufdringlicher Autor. Er reitet nie etwas tot. Mag auch nur ein Teil von seinen zahllosen Kurzgeschichten etwas Besonderes darstellen, so sticht an den besten doch das eine hervor: eine meist phlegmatische Haltung, die eine minimale Handlungsfreiheit und einen kaum messbaren Spielraum unter totalitären Verhältnissen andeutet, aber eben nicht fordert.
Das Überzeugendste sind tatsächlich die Texte aus der unmittelbarsten Nachkriegszeit, denn die späteren Short Storys ab den Fünfzigerjahren kommen hier nicht mehr heran. Neben Das Begräbnis verblüffen vor allem Der Ausmarsch über eine Truppe Kleinkindersoldaten, die noch schnell bewaffnet in den Krieg geschickt werden und den Hauptmann "Onkel" nennen, außerdem Die Reise zur Babuschka über das fast gleichzeitige und halluzinierende Sterben eines deutschen und eines russischen Soldaten auf einem schaukelnden Karren: Die drei sind zeitlos genau, fettfrei, schnell und von einer Erbarmungslustigkeit wie bei Samuel Beckett. Verträgt sich das so Lakonische mit dieser mustergültigen, ja kommerziellen Verdichtung und dem bewusst gesetzten Tempo und den scharfen sinnlichen Naturschnappschüssen? Das führt zurück zum Anfang: Schnurre gehört in die Schulbücher, denn sie machen ihm nichts aus. |

▲ Am Erker Nr. 56 (2008)
▲ Wolfdietrich Schnurre: Dreimal zur Welt gekommen (2008)
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