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In den ersten sieben Ausgaben der Zeitschrift "Bücher" standen meine sieben Beiträge zur Kolumne "Überschätzte Bücher": Polemiken auf Bestseller (gerne Schullektüren). Hier die unredigierten Fassungen.

Überschätzte Bücher, Bücher 1/2004, Essen, November 2003.

Siegfried Lenz: Fundbüro

Was Siegfried Lenz beherrscht, sind zeitlose Naturbeschreibungen, und wovon er die Finger lassen sollte, sind moderne Menschen. Sieht er sie nicht, kennt er sie nicht, mag er sie nicht? In den fünfziger Jahren schrieb er noch gute Kurzgeschichten, die auf der Höhe der Zeit waren, seitdem fand er es nicht nötig, seine Literatur zu renovieren. Umso rätselhafter bleibt es, dass Lenz' neuestes Werk Fundbüro jetzt in den Kulturspalten gelobt wurde, als gehöre Lenz tatsächlich zur aktuellen Hochliteratur.
Seit Jahrzehnten hat sich bei ihm nichts mehr gerührt.
Immerhin ist der Autor so alt, wie er sich fühlt. Wenn er versucht, einen jungen Mann zu schildern, Henry Neff, 24, der seinen Job im Bahnhofs-Fundbüro antritt, so handelt es sich eigentlich um einen naiven Rentner in sportlicher Jünglingsgestalt. Der nette Neff ist ein Cyborg mit Uralt-Software, eine anachronistische Phantomperson, die nichts versprüht außer unerbittlicher Nettigkeit. Man sieht einen geschniegelten Scheitelträger vor sich, einen, wie man in Norddeutschland sagt, Menschen ohne Bauchnabel. No Sex please. Lenz will nicht wirklich wissen, was Zwanzigjährige 2003 denken und fühlen und wie sie sprechen. Es mag sein, dass es in den Fünfzigern solche papierenen Dialoge und ritterlichen Anstandsformen gab, zumindest aber weiß der Autor, dass seine Leser sich genau diese Jugend wünschen: sauber, überschaubar, erfunden.
Auch die älteren Figuren (Personen kann man sie kaum nennen) tragen große Etiketten um den Hals, auf denen steht: "Holla, dies ist ein vierschrötiger Gesell mit rauer Schale und weichem Kern" oder "Aufgemerkt, hier tobt ein Konflikt zwischen preußischem Pflichteifer und humanistischem Herzen". Vermutlich geht der Hamburger Lenz nie vor die Tür, sondern holt die nötige Welterkundung nach, wenn er mit seiner Frau im abgelegenen Dörfchen Tetenhusen wohnt. Er bringt mühelos in einem einzigen Satz eine ganze Kaskade von altfränkischen Wörtern und holzschnittartigen Charakterisierungen unter: "Verblüfft musterte er die listigen und rohen, die entschlossenen und ungeduldigen Gesichter der Besucher".
Mausetotes Deutsch, das niemand vermissen und abholen wird.
Dieses Fundbüro ist, wer hätte das zu denken gewagt, ein biedermeierliches Sinnbild: Menschen finden hier zueinander und finden sich selbst. Henry wird belehrt: "'Nirgendwo sonst gibt es einen Ort, wo Sie so viel Selbstzerknirschung erleben, so viel Bangen und Selbstanklagen'", es klingt nach einem pietistischen Läuterungszentrum. Viel Platz nimmt die Geschichte des gnadenlos herzigen Fedor ein, der ist Russe: "'Etwas Tatarisches haben die Baschkiren'". Jaja, so ist er, der Russe. Böse Menschen, die dem Baschkiren was wollen, gibt es dann auch, aber wacker erwehren sich die Guten, die Pfundskerle aus dem Fundbüro.
Das Buch ist so muffig wie eine vergessene Hutschachtel.
Gleich zu Anfang findet sich der Messerkasten eines Messerwerfers an, und um zu beweisen, dass es wirklich sein Besitz ist, soll der Zirkus-Recke seine Kunst demonstrieren. Der Gesell der exotisch-männlichen Sorte (er trägt ein "Holzfällerhemd", oho), stellt also den öden Henry vor eine hölzerne Tür, holt mit einem der spitzen Fundgegenstände aus - und: schade eigentlich. Der Roman hätte nach knapp einem Zehntel zu Ende sein können. Messerwerfer? Wo lagen die doch gleich? Genau, im Regal der Fünfzigerjahre.

Magazin Bücher 1/2004
▲ Magazin Bücher 1/2004

aus: Bücher 1/2004
▲ aus: Bücher 1/2004

Siegfried Lenz: 'Fundbüro'
▲ Siegfried Lenz: Fundbüro (2003)