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In den ersten sieben Ausgaben der Zeitschrift "Bücher" standen meine sieben Beiträge zur Kolumne "Überschätzte Bücher": Polemiken auf Bestseller (gerne Schullektüren). Hier die unredigierten Fassungen.

Überschätzte Bücher, Bücher 5/2004, Essen, Juli 2004.

Christa Wolf: Kassandra

Der Anfang verspricht noch ein gutes Buch: Kassandra, die sich unbeliebt machte durch ihre Prophezeiung der Niederlage Trojas, steht nach dem Krieg als Gefangene auf einem Schinderkarren vor dem Löwentor von Mykene und weiß, dass sie gleich zur Hinrichtung hineingerufen wird. Was bisher geschah, zieht innerlich an ihr vorüber.
Hier hört auch der Klappentext auf. Denn was Kassandra Revue passieren lässt, ist ein unlesbares Mus aus Namen und Handlungspartikeln. Homer durch den Wolf gedreht. "Kassandra" könnte der Name einer Küchenmaschine sein, die bis auf das Ende alles kleinschreddert, oder, vornehmer: dekonstruiert.
Dieser Matsch aus Bezugsmöglichkeiten und Nebenfiguren ist beliebig zu deuten, die Autorin würde als Untergangsprophetin der DDR wie des Westens taugen - mahnend den Zeigefinger in jede globale Richtung zu heben, ist nie falsch, und es gehört elementar zum Spiel, dass Autoren eine "seherische" Funktion vorgeben. "Zum erstenmal kam mir der Gedanke, die Vertraulichkeit zwischen uns beruhe, wie so oft zwischen Männern und Fraun darauf, daß ich ihn kannte und er mich nicht."
Fraun. Fraun durchschaun, und wenn Fraun raunn, ist das weibliche Weisheit. Wohnküchenszenen statt Schlachtengetümmel, verquaste Genitivkonstruktionen statt Modernität, künstlich patinierte Sprache: "Marpessa, sah ich, die, wie einmal schon, mit mir nicht sprechen wollte, war besser vorbereitet, auf was wir nun erfahren, als ich, die Seherin;"
Christa Wolf möchte eine irgendwie-weibliche Gedankenstromtechnik einsetzen, aber sie ahnt, dass auch Fraun ohne Vorkenntnis der Ilias nichts verstehen werden. Deshalb setzt die Autorin immer wieder Denkmarken, steife Notizbuchsätzchen: "Achill." Oder: "Priamos der Vater brauchte mich." Oder: "Ja, Paris." Denn so reden Fraun mit sich selbst vor ihrer Hinrichtung. "Apollon Lykeios. Die Stimme Parthenas der Amme." Fraun sind wohl so. "Wer war Kybele?" Ja, wer nur. In diesem Pamp ist man sogar dankbar für diese papierenen Infos. "Arisbe. War sie nicht des Aisakos Mutter gewesen." Noch zwei Namen mehr. Auch "Iphigenie" muss erwähnt werden, muss eben. "Eumelos? Wer ist Eumelos. Ach ja. (...) Dies würde anders werden, und zwar gründlich, versprach Eumelos. Wer? Eumelos." Ach ja! (Ist er der Kommandant der vogonischen Flotte?)
Die bisher verkannte Humoristin macht sich sogar daran, die unprüden alten Griechen auch sinnlich zu erfassen. Jawohl, Kassandra vollzieht Geschlechtsverkehr. Hier kommt die erste Ekstase, Achtung: "... nahm die Beine der Männer in mich auf."
Schon vorbei. Christa Wolf hat das Waden-Fisting erfunden. (Und bayrische Schüler lesen solche Extremferkeleien!) Es gibt noch mehr Erotik - die nebenbei den Einfluss von Barbara Cartland belegt: "Ich löschte seine Glut, blieb selber kalt und träumte von Aineias." Männer sind wie Bulleröfen. Die erhitzte Schwester Christa lässt ihre Heldin schier verrückt werden: "Als meine Keuschheit seiner Scheu begegnete, wurden unsre Körper toll." Da kräuseln sich auch dem härtesten Helden die Fußnägel in den Sandalen.

Magazin Bücher 5/2004
▲ Magazin Bücher 5/2004

Christa Wolf: 'Kassandra'
▲ Christa Wolf: Kassandra (1983)