Michael Weins: Krill. Erzählungen. Hamburg, Mairisch 2007.
In: Macondo 17, Bochum, Juli 2007.
Autist ist Autist ist Autist
Aus einem Kurzprosaband eine einzige Story herauszugreifen, geht das? Aber ein wenig repräsentiert sie doch das Ganze. Die Autistendisco beschreibt einen Tanzabend für "Autisten" samt Betreuern so liebevoll böse, dass man nichts vermisst. Es steckt sehr viel drin an den Zutaten aus Weins' Welt. Michael Weins, Jahrgang 1971, hat mit Krill sein drittes Buch veröffentlicht, nach dem stark surrealen Geschichtenband feucht von 2000 und dem lakonischen Kindheits-und-Psychiatrie-Roman Goldener Reiter von 2002. Neben der Organisation des Hamburger Machtclub arbeitet er als Diplompsychologe.
"Die Betreuer sind die, die verloren und kontaktarm an den Tischen herumstehen." Der Erzähler, selbst ein Betreuer, ist ein freundliches Ich, eines, das sich bemüht und zugleich kein bisschen vor dem inneren Sarkasmus ausweicht. Während der Karnevalszeit besucht er die "Autistendisco" zusammen mit dem "Autisten" Manuel, der nur das Wort "Bia" artikulieren kann. "Wir sind beide nicht verkleidet", und Manuel ist es eh gleich, wie und wo er sich betrinkt. Im Discokeller wird eine Pädagogen-Unterwelt ausgebreitet, alle bemühen sich, gute Menschen zu sein, sind liebevoll und spielen die totale Distanzlosigkeit ihrer Schützlinge mit. Die niedlichen 18-jährigen Betreuerinnen im sozialen Jahr überstehen den Abend lächelnd, lassen sich hautnah anbaggern, schließlich sind sie selbst "kleine blonde Engel, und nach so einem Abend kommen sie nach Hause und stecken sich den Finger in den Hals." Spaß haben nur die tanzenden "Autisten" selbst, während sie abhotten zu einem Mix aus Polonaise Blankenese und I will survive und dem Ententanz, vorgesetzt von zynischen, bierbäuchigen Alt-DJs, die "sich nach getaner Arbeit drei Stunden am Stück schlapp lachen werden" wie Gary-Larson-Teufel.
Michael Weins lässt seinen Erzähler ohne Jargon beschreiben, ohne Psychologisierung, aber mit dreckigem Charme, und gut verdichtet. Er schwingt sich seufzend ein: "Ich tanze so spackig und extrovertiert wie es geht", bis ihm der "Eierwärmerautist" selbstgehäkelte Mützchen anbietet - zu billig. Gleich rät ihm der Erzähler, den Preis für diese Hiphopper-Deckel zu verdreifachen. Das macht den "Autisten" glücklich. Manuel pinkelt inzwischen zielgenau neben das Waschbecken, wie immer, und danach wird er sich die Hände mit fast kochendem Wasser abwaschen. "Er brüht sie, bis sie wie verzehrfähige Krebse aussehen, er liebt das."
Ein perspektivischer Kunstgriff besteht darin, die Veranstaltung nicht als ein Fest von Behinderten darzustellen, sondern sie allesamt "Autisten" zu nennen, was zumindest heute immer noch einen höhergeistigen Beigeschmack hat und auf mehr verweist. Aber hier ist ein "Autist" ein "Autist" und bleibt einer, man kommt nicht in ihn rein, und man muss wohl nicht wirklich. Mikroparallelgesellschaft oder irrer Planet? Fest steht, dass die Autisten den Betreuern offenbar unveränderlich fremd sind und die Betreuer den Autisten offenbar ziemlich wurscht - das einzige Gespräch zwischen beiden Parteien geht ums Geschäftliche.
Was sagt Michael Weins zu dieser Interpretation? Er würde seinen Ich-Erzähler vorwärtsstupsen, damit der seinen Autisten Manuel vorwärtsstupst, damit dieser seine rothäutige Hand ausstreckt und "Bia!" ruft. Okay. |

▲ Macondo 17 (2007)
 ▲ Michael Weins: Krill (2007)
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