Peter von Matt: Der Entflammte. Über Elias
Canetti. Zürich / München, Nagel & Kimche 2007.
In: Schweizer
Monatshefte Nr. 6, 87. Jg., Zürich, Juni 2007.
Ein Dutzend Begegnungen
Zum 70. Geburtstag von Peter von Matt versammelt dieser Band Aufsätze aus 36 Jahren über Elias Canetti - der erste erschien 1969 in den Schweizer Monatsheften -, und eindeutig dominiert dabei der Zeitraum ab dem Tode Canettis, drei Viertel des Materials sind rückblickend entstanden. Es bestätigt die Regel, dass das Leben der Autoren posthum beginnt, obwohl oder eben weil Canetti das Sterbenmüssen hasste wie kein anderer. Die beiden Nachrufe von 1994, ausgerechnet, bilden die einzigen schwächeren Texte dieser Zusammenstellung, denn Peter von Matt als ein eng Vertrauter Canettis möchte hier vielleicht zu sehr konstruierend Leben und Werk übereinbringen. Missverständlich klingt es auch zu sagen, die "Verwandlung" sei ein "Schlüsselwort für Canettis Lebensarbeit" - der Ausdruck fordert eine fragliche Doppeldeutigkeit heraus, denn er gilt im Sinne eines literarischen Vorgehens (der An-Verwandlung), jedoch weniger für die Lebensweise, zudem deutlich dargestellt wird, wie unwillig sich Canetti gegenüber "Häutungen" verhielt und seine Lebensalter vom Kind bis zum Greis immer un-verwandelt präsent haben wollte.
Die Betrachtungen zu Canettis Leben und zum Werk, für sich genommen, glänzen wie gewohnt. Immer ist Peter von Matts feine, konkrete, sympathisierende und dabei überraschende Bezüge findende Textarbeit ein Genuss. Erhellend sind die Überlegungen zur Aphoristik Canettis mit den Verbindungslinien zu Hebbel und Lichtenberg. Diese verquer anmutenden Kürzestprosastücke sind keineswegs ein "Ertrag intellektueller Prozesse, sondern das plötzliche Geschehen aus dem erregten Gehirn heraus", und obwohl sie erkennbar komponiert sind, drehen sie sich semantisch gerne im Leeren (hier fällt auch das wohl unvermeidbare Wort "Dekonstruktion"), sie bilden ihre eigene, verstörende Form, sind zu widerständig, um bloße Hobelabfälle aus der Werkstatt gewesen zu sein.
Von Matt stellt heraus, wie sehr Canetti Abstrahierungen ablehnte, erst recht das ideologische Betrachten von Literatur, und wie er den Blick aufs Detail forderte (darin ähnelte er Nabokov), was bei der Germanistik schlecht angekommen sei. Trotzdem klingt es übertrieben, wenn von Matt anno 2005 behauptet: "Er haßte die Systeme, deshalb können die Systematiker auch ihn nicht ausstehen. Canetti hat mehr Gegner als andere Schriftsteller." Das mag einmal so gewesen sein, zu spüren ist davon heute nichts mehr. Bezeichnend für solche Veränderungen ist die Entwicklung, die sich innerhalb dieses Bandes beim Betrachten Sigmund Freuds zeigt: 1969 beruft sich von Matt noch auf "die von Freud entdeckten seelischen Mechanismen", als handle es sich um blanke Fakten, 1981 heißt es, "der Schriftsteller Freud ist es, mehr als der Theoriebildner", 1989 darf der Leser bereits etwas "mit der wissenschaftlichen Explikation Sigmund Freuds konfrontieren und zusehen", was so daraus wird. Und 1994 ist es kein Problem mehr, Canettis "passionierte Gegnerschaft zu Freud" offen zu benennen und ausschließlich den Stilisten Freud hervorzuheben. Eine Salamitaktik des Abrückens von systematisierender Interpretation. |

▲ Schweizer Monatshefte 06/2007
 ▲ Peter von Matt: Der Entflammte. Über Elias Canetti
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