Rezensionen
für Schweizer Monatshefte

 
   

Agota Kristof: Irgendwo. Nouvelles. München, Piper 2007.

In: Schweizer Monatshefte Nr. 7, 87. Jg., Zürich, Juli 2007.

Formfehler

Selbst wenn man bei früheren Büchern von Agota Kristof gelegentlich vergaß, worum es ging, so behielt man doch die Art im Kopf - die Art, nicht unbedingt den Stil, denn es war ein Lese-Empfinden, als sei jeglicher Stil eingedampft auf schmucklose Drehbuchanweisungen. Müsste dieser berühmte Lakonismus nicht ideal sein für die Kurzgeschichtenform, wo Ökonomie und Konzentration wesentlich sind? Weit gefehlt.
Der schmale Band Irgendwo versammelt zwei Dutzend Prosastücke, Erzählungen und Splitter in einer verwirrenden und auch wirren Vielfalt. Es gibt wenige runde Stories, dafür viele blasse Skizzen, kleine Fantasy-Szenarien, die gern als Märchen getarnt werden, und einige möglicherweise aufgegebene Anfänge, die man wohlwollend als "offene Formen" verstehen könnte. Dieses Sammelsurium bietet dabei inhaltlich nichts Neues: Agota Kristof beschreibt beschädigte Menschen mit traurigen oder diffusen Schicksalen, die sich im Leben nicht mehr zurechtfinden, thematisch bleibt sie bei ihrem Umkreis von Einsamkeit, Verrücktsein, Alter, Krankheit, Apatie. Allerdings wählt sie manchmal einen beklagenden Ton, und der ist - leider - neu.
Wenn die sprachliche Form schmucklos ist, kommt es umso mehr auf andere Aspekte an, um einen ästhetischen Mehrwert zu erzielen. Agota Kristofs Einzigartigkeit bestand bisher darin, in dieser sich klein gebenden, ja schalltoten Weise von unerhörten Dingen zu erzählen oder sehr geheimnisvoll zu sein, und in ihrem berühmtesten Buch, Das Große Heft, schaffte sie beides. In diesem Band ist jedoch fast nichts davon zu finden.
Die Einstiegsgeschichte erreicht höchstens das Niveau eines harmlosen Kurzkrimis: Eine Frau erzählt einem Arzt, wie sie ihren Ehemann tot aufgefunden habe, angeblich sei er in seine Axt gefallen. Sofort weiß man, dass sie ihn ermordet hat - und man wartet auf eine nächste Ebene, damit die Geschichte sich von einer Schreibkursus-Fingerübung unterscheidet. Aber da passiert nichts weiter. Der Arzt ruft den Irrenarzt.
Irgendwo kommt um Jahrzehnte zu spät. Die Stories können nicht erschrecken, sie sind vorhersehbar, handwerklich bestenfalls ansprechend gemacht, und die vielen Skizzen oder Anfänge verstören in ihrer Formlosigkeit anno 2007 niemanden. Kunstcharakter besitzt kaum einer dieser Texte. Da nützt es wenig, sie mit dem schicken Gattungswort "Nouvelles" zu versehen, als repräsentierten sie wesentlich Größeres.
Ausgerechnet die oft gepriesene ökonomische Erzählweise erzeugt hier in der Kurzprosa ein Formproblem. Die wenigen gelungenen Ausnahmen, z.B. die surreale Skizze "Die Lehrer" oder die beiden konventionellen Stories "Der Briefkasten" und "Die falsche Nummer" können nicht die Stärken der Autorin ausfahren und sind zu durchschnittlich. Um jemandem Agota Kristofs Werk zu eröffnen, ist dieser Band eher schädlich. Ihre Stärke bleibt offensichtlich der Roman, die große Form, dort hat sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.

Schweizer Monatshefte, Juli 2007
▲ Schweizer Monatshefte, Juli 2007

Agota Kristof: 'Irgendwo'
▲ Agota Kristof: Irgendwo (2005, dt. 2007)